Stillen: Die Herausforderungen für die Schweiz im Jahr 2019
Es geht um Prävention
Prävention heisst Vermeiden von Krankheiten durch gezielte Massnahmen. Dazu zählt die Ernährung, vorallem in den ersten Lebensjahren wo das Stillen optimal ist für das Baby und lebenslange Benefits ergibt - auch für die Mutter. (The Lancet, Breastfeeding Series 2016).
Unser Immunsystem - Grundstein für die Gesundheit
Unser Immunsystem ist der Grundstein für die lebenslange Gesundheit. Seit einigen Jahren sind Studien zum Microbiota erschienen die den Zusammenhang aufzeigen zur Rolle unserer körpereigenen (guten) Bakterien für das Immunsystem und die Gesundheit auf lange Frist. Das Forschungsprojekt "Microbirth" hat seine Erkenntnisse in einem Film und in verschiedenen Workshops veröffentlicht. Unser Körper wird in drei Etappen mit mütterlichen guten Bakterien besiedelt: bei der (vaginalen) Geburt, durch den sofortigen Körperkontakt des Neugeborenen mit seiner Mutter und durch das Stillen. Dieses Kontinuum Schwangerschaft - Geburt - Stillen ist die Basis für einen gesunden Start ins Leben.
Benefit des Stillens - auch in reichen Ländern
Im Hinblick auf die langfristige Gesundheit von Kindern oder Müttern (Fettleibigkeit, Diabetes, Krebs, Infektionen) sind die Vorteile des Stillens gut dokumentiert. Neuere wissenschaftliche
Untersuchungen (Mikrobiota, Aufbau des Immunsystems, Herz-Kreislauf-Erkrankungen) beziehen sich auf die Auswirkungen der ersten 1000 Lebenstage und damit auf das Stillen.
Positive lebenslange Effekte werden auch in reichen und entwickelten Ländern beobachtet: Stillen im 21. Jahrhundert: Epidemiologie, Mechanismen und lebenslange Wirkung. Victora CG et al, The
Lancet 2016; 387: 475-90.
Der Nutzen der Muttermilch ist bei Frühgeborenen noch messbarer. In der Schweiz wurden 2017 rund 7% der Babys vorzeitig geboren.
Stillraten in der Schweiz
Die dritte Schweizer Säuglingsernährungsstudie (SWIFS 2014) zeigt, dass die Bereitschaft zum Stillen in der Schweiz weit verbreitet ist. Fast 95% der Mütter tun dies kurz nach der Geburt.
Allerdings sinkt die Rate des ausschliesslichen Stillens in den ersten beiden Lebensmonaten auf 71% und in den dritten und vierten Monaten auf 62%. Nur 40% der Kinder werden im Alter von sechs
Monaten noch gestillt. Viele Mütter gehen daher zu einem Zeitpunkt, den spezialisierte Organisationen für die Gesundheit von Neugeborenen und Müttern selbst bei weitem nicht für optimal halten,
und zwischen 2003 und 2014 wurden in der Schweiz keine wesentlichen Entwicklungen zu diesen Fakten beobachtet.
Internationale Empfehlungen
- Seit 2001 empfiehlt die WHO allen Kindern das ausschliessliche Stillen für 6 Monate (36 Wochen), wobei das Stillen zwei Jahre oder länger und parallel zur Diversifizierung fortgesetzt
wird.
- ESPGHAN betont 2017, dass ausschliessliches 6-monatiges Stillen ein wünschenswertes Ziel ist.
- Die American Academy of Pediatrics (AAP) bekräftigt ihre Empfehlung, im Jahr 2012 für etwa 6 Monate ausschliesslich zu stillen, gefolgt von einer Fortsetzung des Stillens bei Einführung von
Beikost und einer Fortsetzung des Stillens für ein Jahr oder länger, wie von Mutter und Kind gewünscht.
- Der Ernährungsausschuss der Französischen Kinderärztegesellschaft empfiehlt 2013: "Exklusives Stillen ermöglicht ein normales Säuglingswachstum bis zum Alter von 6 Monaten. Es gibt daher keinen
Grund, vor diesem Alter andere Lebensmittel einzuführen, wie von der WHO empfohlen, die darauf bestehen, dass das Stillen je nach Wunsch der Mutter bis zum Alter von 2 Jahren oder sogar darüber
hinaus fortgesetzt werden kann, sofern es durch eine qualitativ hochwertige Ernährungsdiversifizierung ab dem Alter von 6 Monaten ergänzt wird".
Bedarf an Unterstützung
"Primum non nocere": Die erste Aufgabe besteht darin, das bestehende Stillen zu schützen und zu unterstützen. Gemäss der 3. Schweizerischen Säuglingsernährungsstudie (SWIFS 2014) beträgt die
Einführungsrate in der Schweiz 95%, 50% der Kinder sind seit mindestens 12 Wochen ausschliesslich ́allaités und die mittlere Stilldauer in der Schweiz 31 Wochen. Wir sind weit entfernt von den
Empfehlungen der WHO: ausschliessliches 6-monatiges (36 Wochen) Stillen für alle Kinder, mit anhaltendem Stillen während der Diversifizierung. Viele Frauen verzichten gegen ihren Willen auf das
Stillen, weil sie keine Unterstützung und keine korrekten und relevanten Informationen haben. Die beste Unterstützung ist die Vernetzung von Fachkräften, die im Stillen geschult sind, und der
Kontakt zu einer Gruppe von Müttern.
Medizinischer Lehrplan - Förderung des Stilltrainings
In ihrer Ausbildung sollten alle Angehörigen der Gesundheitsberufe, die mit Müttern und Kindern in Kontakt stehen, eine grundlegende Stillausbildung (wie z.B. den "18-stündigen Lehrplan der WHO")
erhalten und ermutigt werden, sich für eine Weiterbildung einzuschreiben, um aktuelle Informationen und einen konsistenten Diskurs zu gewährleisten.
Das Stillunterstützungs-Training sollte betonen, dass die Laktation ein physiologischer Prozess ist und mit Schwangerschaft und Geburt zusammen ein biologisches und psychologisches Kontinuum
bildet.
Korrekte Informationen - ein Gebot der Stunde
Sowohl Eltern als auch alle Angehörigen der Gesundheitsberufe verdienen und fordern klare, vollständige und unvoreingenommene Informationen, die auf kommerziellen Interessen beruhen.
Die Einhaltung des Internationalen Kodex für die Vermarktung von Muttermilchersatzstoffen (1981) ist von grundlegender Bedeutung, und die Überwachung der Handelspraktiken durch eine neutrale
Stelle ist von wesentlicher Bedeutung.
Die gesundheitlichen Entscheide in der Schweiz sollten nicht von Personen mit Interessenkonflikten oder finanziellen Verbindungen zur Industrie beeinflusst werden.
Wahl oder Entscheidung?
Transparente Informationen über das Stillen und den Wert der Muttermilch sind die erste Pflicht der Angehörigen der Gesundheitsberufe sowie der gewählten Amtsträger und Entscheidungsträger. Eine
Familie kann keine "Wahl" treffen, wenn die Informationen unvollständig oder verzerrt sind, wenn die Unterstützung fehlt, wenn die Gesetzgebung ungünstig ist. .... Ausserdem ist das Stillen keine
einfache, umkehrbare und veränderbare "Wahl", da man sich für ein gewöhnliches Lebensmittel entscheidet, dessen Angebotspalette auch am nächsten Tag existiert und es ermöglicht, jeden Tag neu zu
wählen. Stillen ist eine lebenswichtige Entscheidung. Es ist in erster Linie eine Entscheidung der Frau und des Paares, aber auch eine Entscheidung und eine Richtung der Gesellschaft. Die
Vorteile des Stillens halten ein Leben lang für den Betroffenen und die Gesellschaft insgesamt an.
Ein Blick auf die Gesellschaft
Im Mai 2017 reiste das Bild der australischen Senatorin Larissa Waters, die im Parlament pflegt, um die Welt, ebenso wie ihr Wunsch: "Wir brauchen mehr Frauen und Eltern im Parlament". Ein
Wunsch auch an die Schweiz und ihre demokratischen Organe.
Nachhaltige Entwicklung
Muttermilch ist eine natürliche Ressource, unerschöpflich, dezentral, bei der richtigen Temperatur und in einer freundlichen Verpackung verfügbar. Seine Zusammensetzung ist spezifisch für unsere
Spezies und perfekt als exklusive Nahrung bis zum Alter von sechs Monaten angepasst und bleibt während der gesamten Diversifizierung eine wertvolle Nahrung. Kein Transport, kein Abfall, keine
Verschwendung von Wasser und Strom, keine Fabriken.... - Muttermilch hat neben all den anderen die Eigenschaft, ein ökologisches Produkt zu sein.
Im Jahr 2015 verabschiedeten die Länder der Welt die 17 Ziele für nachhaltige Entwicklung (SDGs), die bis 2030 erreicht werden sollen. Das Stillen ist ein positiver Faktor für alle 17 Ziele!
https://www.un.org/sustainabledevelopment/fr/
Wirtschaft - bessere Gesundheit zu niedrigeren Kosten
Viele Studien zeigen die Einsparungen bei den Gesundheitskosten bei steigenden Stillraten. Es geht darum, sich in eine präventive Gesundheitsperspektive zu versetzen, nicht nur kurativ und
erholsam.
In der Schweiz beliefen sich die Gesundheitsausgaben für Kinder von 0-5 Jahren im Jahr 2015 auf 1'380 Millionen Franken! (BFS 2017) Ein Teil dieser Kosten könnte eingespart werden, wenn Schweizer
Kinder gemäss den Empfehlungen der WHO gestillt werden.
Dies gilt umso mehr für frühgeborene Kinder. Der durchschnittliche Spitalaufenthalt eines Neugeborenen kostet CHF 1378 pro Tag. Doch die Kosten für Frühgeborene, die eine besondere Betreuung
benötigen, steigen erheblich. Diese Babys sind besonders gefährdet durch NEC (nekrotisierende Enterokolitis) eine schwere Darminfektion. Eine jährliche Kostenschätzung beträgt CHF 3'115'256
(Barin 2018).
Nur 51% dieser Kinder werden ausschliesslich gestillt, obwohl sie am meisten Muttermilch nötig hätten. Wäre die Stillrate bei Frühgeborenen 100%, würden sich allein die Kosteneinsparungen für die
NEC-Krankheit auf CHF 1'232'568 belaufen.
Da das Stillen auch vor anderen Krankheiten schützt, sind die hochgerechneten Benefits umso gewichtiger.
Die tatsächlichen Kosten für das nicht-Stillen
Die Frage stellt sich dann wie folgt: Was sind die tatsächlichen Kosten, wenn man nicht stillt und Frauen die stillen möchten nicht genügend unterstützt? "Nicht-Stillen ist mit einer geringeren
intellektuellen Leistungsfähigkeit und einem wirtschaftlichen Verlust von rund 302 Milliarden USD pro Jahr weltweit verbunden. ", schreibt Nigel Rollins. Warum investieren und was es braucht, um
die Stillpraktiken zu verbessern? Rollins Nigel A, et al. The Lancet 2016; 387 : 491-504.
https://www.thelancet.com/journals/lancet/article/PIIS0140-6736(15)01044-2/fulltext
Melissa Bartick hat in einer umfassenden Studie die 2010 erschienen ist die Kosten von 10 Pathologien ausgewertet
und eine Kosten-Simulation vorgenommen: Wenn 90% der Frauen während 6 Monaten ausschliesslich stillen würden in den USA würden sich die jährlichen Einsparungen auf 13 Milliarden USD belaufen.
https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/20368314
Die Weltbank
"Rein wirtschaftlich und gering ist das Stillen die effektivste Investition, die ein Land tätigen kann, unabhängig von der Branche und dem Grund! " Keith Hansen (The World Bank). Quelle: "The
Power of Nutrition and the Power of Breastfeeding", Breastfeeding Medical Journal. Oktober 2015, 10(8): 385-388. (Seite 386)
Innocenti-Deklaration (1990), unterzeichnet von der Schweiz
OPERATIVE ZIELE:
"Bis 1995 sollte es jede Regierung folgende Punkte ausgeführt haben.
- Benennung eines nationalen Koordinators mit entsprechenden Befugnissen und Einsetzung eines multisektoralen nationalen Ausschusses zur Förderung des Stillens, der sich aus Vertretern der
zuständigen Ministerien, Nichtregierungsorganisationen und Berufsverbänden im Gesundheitsbereich zusammensetzt;
- Stellt sicher, dass jede Einrichtung, die Mutterschaftsdienstleistungen erbringt, die zehn Bedingungen für ein erfolgreiches Stillen erfüllt, die in der Gemeinsamen Erklärung von WHO und UNICEF
über "Schutz, Förderung und Unterstützung des Stillens: Die besondere Rolle der Mutterschaftsdienste" festgelegt sind;
- Schritte unternommen hat, um die Grundsätze und Ziele aller Artikel des Internationalen Kodex für die Vermarktung von Muttermilchersatzstoffen vollständig umzusetzen, und - unternahm Schritte,
um die Grundsätze und Ziele aller Artikel des Internationalen Kodex für die Vermarktung von Muttermilchersatzstoffen und der nachfolgenden einschlägigen Resolutionen der
Weltgesundheitsversammlung vollständig umzusetzen;...... »
Quelle: http://www.unicef.org/programme/breastfeeding/innocenti.htm
Im Jahr 2018 hat die Schweiz noch keine Nationale Kommission für das Stillen gegründet. Die zehn Bedingungen werden nicht in Geburtskliniken veröffentlicht.
Der Internationale Kodex für die Vermarktung von Muttermilchersatzstoffen von 1981 wird nur teilweise im Schweizer Recht umgesetzt.
All dies verdient dass man darüber nachdenkt und fordert einen pragmatischeren Ansatz für das Stillen.
Konvention für die Rechte des Kindes CRC - 26. Februar 2015
CRC's Abschliessende Beobachtungen für die Schweiz, 26. Februar 2015 (19 Seiten): Empfehlungen für die Schweiz (S.15 / 23)
59. Der Ausschuss empfiehlt dem Vertragsstaat [Schweiz]:
a) ihre Bemühungen zur Förderung des ausschliesslichen und kontinuierlichen Stillens zu verstärken, indem sie Zugang zu Materialien bieten, die sich mit der Bedeutung des Stillens und den Risiken
von Muttermilchersatz befassen, und indem sie das Bewusstsein für diese Fragen schärfen;
b) Überprüfung und Verstärkung der Schulung des Gesundheitspersonals über die Bedeutung des ausschliesslichen Stillens;
c) Weitere Erhöhung der Zahl der als "babyfreundlich" zertifizierten Krankenhäuser;
d) Entwicklung einer umfassenden nationalen Strategie für Ernährungspraktiken von Säuglingen und Kleinkindern;
e) Sicherstellen, dass der Internationale Kodex für die Vermarktung von Muttermilchersatzstoffen streng eingehalten wird;
f) Sicherstellen, dass die nationalen Empfehlungen zum Stillen mit den Empfehlungen der WHO übereinstimmen;
g) Erwägen, die Dauer des Mutterschaftsurlaubs auf mindestens sechs Monate zu verlängern.
Pressemitteilung der Vereinten Nationen - 22. November 2016
Stillen ist ein Thema der Menschenrechte, sagen UN-Experten, und verlangen Massnahmen gegen künstliche Milchprodukte
Genf, 22. November 2016 - Stillen ist eine Menschenrechtsfrage für Babys und Mütter und sollte zum Wohle beider geschützt und gefördert werden, sagen Experten in einer heute veröffentlichten
Briefing Note.
Die Staaten sollten dringend Massnahmen ergreifen, um die Vermarktung von "falschen, aggressiven und unangemessenen" Muttermilchersatzstoffen in einem Multi-Milliarden-Dollar-Sektor zu
unterbinden, so die UN-Sonderberichterstatter zusammen mit der Arbeitsgruppe zur Diskriminierung von Frauen und dem Ausschuss für die Rechte des Kindes.
Diese Marketingpraktiken beeinflussen oft die Entscheidungen von Frauen, wie sie ihre Kinder optimal ernähren können, und können verhindern, dass Babys und Mütter die vielen Vorteile des Stillens
geniessen, sagen Experten. [...]
http://www.ohchr.org/EN/NewsEvents/Pages/DisplayNews.aspx?NewsID=20904&LangID=E
Résumé
Wir stellen fest, dass sich die Schweiz in vielen Bereichen für den Schutz und die Unterstützung des Stillens einsetzen könnte und dass es Wege gibt, die bisher vernachlässigt wurden, und
glauben, dass es einen Grund zum Handeln gibt. Denn das Stillen ist eine wichtige Massnahme, die wirklich einen Unterschied für die Gesundheit machen kann. - 12. April 2019